Ende des Zweiten Weltkriegs in Wildensee, Kreis Zeitz

Aufzeichnung von Else Schneider (1885-1971), geb. Heintze

Else Schneider war die Witwe von Hermann Schneider (1872-1937), der, älterer Sohn des Landwirts Hermann Schneider (1835-1894) in Wildensee, als Bankier fern von Wildensee beruflich tätig gewesen war. In den letzten Jahren des Krieges, nachdem Bomben ihre Wohnung in Berlin zerstört hatten, lebte Else Schneider bei ihrem Schwager Hans Schneider, dem jüngeren Bruder ihres Ehemanns, in Wildensee, einem Weiler mit zwei Höfen:

Flakstellung auf den Feldern meines Schwagers – daher sehr gefährdetes Gebiet. Kampf der Flak gegen schwere Panzer. Geußnitz wird verteidigt. In der Woche vor dem 12.4.1945 dauernd Alarm. Oft schon morgens um 7 Uhr und abends um 10 Uhr – letzter Angriff auf Mitteldeutschland; dort viel Industrie und viele Benzinlager.

Am Donnerstag, 12.4.1945, die Nachricht: Panzerspitze in Naumburg und Theissen. Dauernd Tieffliegerangriff. Ich selbst in Kayna für Besorgungen: Gang durch einen kleinen Wald und blühende Obstplantagen. Es war ein Abschied von Frieden und tiefster Stille in der Natur.

Freitag, 13.4., hatte ich vor, Plätzchen zu backen und sie zu meinem 60. Geburtstag nach Wittgendorf zu meiner Tochter zu nehmen. Die Flak hatte aber schon Beschuss von den Panzern, verteidigte sich gut und schoss auch erfolgreich Panzer ab. Wir fast den ganzen Tag im Keller gesessen mit wenigen, kurzen Unterbrechungen. Wir ahnten, dass uns die Front recht nahe gerückt war. Geußnitz wurde verteidigt. Die Bevölkerung ging in den nahen Bunker, der aber durchaus noch nicht fertig war.

Manchmal überkam einem die Lust, friedensmäßig zu handeln, denn draußen schien die wärmste Sonne und die Kirschen standen in schönster Pracht. Die Kinder waren übermütig und ahnten nicht den Ernst der Stunde. Ich machte schließlich Kreisspiele mit ihnen im Garten.

Das Abendessen verlief verhältnismäßig ruhig. Man rüstete für die Nacht. Die Kinder im Keller, wir Alten im Parterre auf den Chaiselongues. Der Beschuss wurde weniger und man schlief ab und zu ein. Gegen Morgen, 14.4., wieder starker Granatdonner und früh stand man auf mit den schlimmsten Ahnungen für den folgenden Tag. Gleich im Keller gefrühstückt, ebenso zu Mittag mit Broten. Es wurde teils recht ungemütlich; trotzdem legte ich mich auf die Couch, während die anderen im Keller blieben. Plötzlich weckte mich ein scharfer Schuss und auch ich flüchtete in den Keller. Es blieb bei fürchterlichem Krachen, so dass Kinder und Erwachsene schließlich doch die Angst befiel. Vielfache Einschläge aufs Haus. Man merkte, der Giebel des Hauses fiel ein und polterte herunter. Noch ein Krachen, Hans rief: „Die Scheune brennt lichterloh“. Da war der Krieg in der Nähe und schon hörte man Gewehrfeuer um das Haus und überall Einschläge. Es schlug jemand gegen die Haustür, die nicht aufging. Das war der Augenblick, wo uns die Beine weich wurden und uns das Zittern befiel. Die Amerikaner standen vor der Tür und verlangten Einlass. Schwager Hans rief mich zur Verständigung, denn in der Diele standen sechs Mann mit Gewehren im Arm. Ich sprach mit ihnen, innerlich bebend, doch es ging und sie wurden wohl deshalb etwas höflicher. Durchsuchten das ganze Haus nach versteckten Soldaten; die waren aber im Stall und gerieten nun in Gefangenschaft. Es war ein tief beschämendes Gefühl, ansehen zu müssen, wie unsere Soldaten alle abgehen mussten und schließlich mit einem Puff in den Rücken vorwärts getrieben wurden.

Geplündert wurde bei uns nicht. Nur eine Flasche Sekt und Alkohol nahmen sie mit, obgleich sie in allen Vorratskammern nachsahen. Trotzdem war es unendlich schwer, diese feindlichen Soldaten überall herumschnüffeln zu lassen. Gottlob, dass es keine Russen waren, dann hätte es böse sein können. Unterdessen brannte die Scheune bis auf die Mauern herunter, ein brennender Balken nach dem anderen stürzte und am Abend war das Bild trostlos, und doch hatte es seine Romantik: die letzten Flammen züngelten; darüber stand der klare Himmel und die schmale Sichel des Mondes mit blinkenden Sternen. Man konnte den Tränen nicht Einhalt tun und musste weinen und weinen, hätte vor Schmerzen auch schreien können.

In der Nacht schleppte mein Schwager noch die ganze Nacht Eimer um Eimer, um den Kuhstall zu retten. Trotzdem, das Dach brach zusammen. Welch ein Glück, dass das Wohnhaus stehen blieb. Man musste noch so dankbar sein. Die Zimmer sahen durch Granaten teils schlimm aus und der Staub der Ziegel lag fingerdick, da das Dach fast ganz zerschossen war.

Sechs Kälber waren fast verbrannt, teils erstickt, ebenso 22 Schafe; die Pferde hatte man schon am Freitag auf die Weide gebracht.

Am Sonntag, 15.4. – ich wurde an diesem Tage 60 Jahre; welch ein Geburtstag – ging ich nach Geußnitz, da ich von der amerikanischen Sanitätskolonne den Auftrag hatte, für die Toten zu sorgen. Drei waren schwer verwundet gewesen- sie starben, zwei hatte man gefunden. Ich hatte viel Lauferei, bis endlich der Pfarrer dafür sorgen wollte, dass ein … (unleserlich).

Die äußeren Umstände sind zerschmetternd. Ausgang nur von 7 bis 19 Uhr. Kein schöner Spaziergang am Abend in die Göhle (Wald im Tal südlich von Wildensee) oder auf die Weide. Zur schönsten Jahreszeit verboten. Keine Erlaubnis nach Zeitz. Das Schlimmste – die Bevölkerung auf dem Lande; sie begrüßen die Amerikaner als Befreier. Überall weiße Fahnen in den Dörfern. Die jungen Mädchen nehmen sofort Schokolade an und sogar Ringe und Armbänder. In der Stadt bieten sie sich selber an.

Die herumziehenden Russen, ehemalige Fremdarbeiter, bewaffnet, beunruhigen die Bevölkerung. Alles hat Angst vor ihnen. Sie kommen nicht zur Arbeit, halten andere von der Arbeit ab.

Die Bauern sind sehr verschieden behandelt worden. Mitgenommen wurde viele. Wir hatten darin Glück.

In Zeitz wurde in vielen Häusern Quartier gemacht, die Bevölkerung herausgeschickt. Die Amerikaner ließen sich Lebensmittel geben.

21.4. Eine Woche schon seit den schlimmsten Tagen. Wir haben keinen Strom, schon über eine Woche. Man sitzt auf einer einsamen Insel, weiß nicht, was in den anderen Teilen Deutschlands geschieht. Seit gestern darf man seine Dorfgemeinde nicht ohne Passierschein verlassen. Tochter und Enkelin in Wittgendorf konnte ich nicht besuchen. Gänzliches Fehlen der Post.

22.4. Tochter Ilse war in Zeitz, um wegen der Russen eine Anordnung zu bekommen. „Sie sollen arbeiten, sonst kommen sie in ein Lager.“

24.4. Ich war in Zeitz, kam recht erregt und bedrückt nach Hause. Schon der Anblick der vielen Amerikaner! Anschlag über die Zustände in den Konzentrationslagern ließ mich erschauern… Das Publikum ist heiter und zufrieden und ahnt die Zukunft wohl kaum. Eine Sonderzuteilung von Zucker, Mehl, Fleisch macht die Menschen froh. Die Amerikaner benehmen sich durchschnittlich gut auf den Höfen, wo sie zur Kontrolle erscheinen. Die Russenfrage, noch immer nicht gelöst, beunruhigt die Menschen sehr.