Hans-Günter Riedel (1912–1979)

Hans-Günter Riedel (19.2.1912 Zeitz-13.12.1979 Markkleeberg) erstellte aus Anlass seiner Heirat am 17.8.1940 in Zeitz mit Renate Nerger seinerzeit eine ausführliche und lebendig gehaltene Darstellung seines Lebens. 

Seine Frau (9.6.1920-2.1.2013) war die Tochter des damaligen Direktors der großen Zeitzer Kinderwagenfabrik Naether, Alfred Nerger (16.6.1886 Zeitz-15.2.1983 West-Berlin). Nerger, Jurist, hatte elf Jahre lang das Finanzamt Zeitz geleitet und wurde 1931 als Mitglied der Deutschen Volkspartei auf zwölf Jahre zum Oberbürgermeister von Zeitz gewählt. Schwierigkeiten mit den Machthabern, der Nationalsozialistischen Arbeiter-Partei, veranlassten ihn aber 1939, dieses Amt aufzugeben. Die sowjetische Besatzungsmacht nahm ihn 1945 wegen seiner Stellung bis 1945 für siebeneinhalb Jahre in Haft. 

Von 1945 bis 1969 war Hans-Günter Riedel Werkdirektor des Projektierungs-Entwicklungsbüros „Ingenieurtechnisches Zentralbüro für Mineralöle und organische Grundstoffe“ in Böhlen bei Leipzig. Er promovierte 1958 an der Bergakademie Freiberg/Sachsen und wurde dort 1961 Professor. Die Akademie der Wissenschaften in Berlin wählte ihn im Juni 1964 zu ihrem Mitglied. Das größte Vorhaben des Werkes in Böhlen waren die Pläne für den Ölhafen und die Verarbeitungs-Anlagen in Schwedt an der Oder. Wegen eines Augenleidens schied Hans-Günter Riedel vorzeitig aus dem Dienst.

In Zeitz geboren, zwei Jahre vor dem Ersten Weltkrieg, also in einer Zeit, die meine Eltern und wohl auch alle anderen unserer Kreise als eine schöne, sorgenfreie Zeit darstellen, reihe ich also diese zwei Jahre in eine erfreuliche Zeitspanne, wie sie bis zur Jetztzeit noch nicht wieder kam und nach den jetzigen Aussichten auch auf lange Zeit nicht wieder zu erwarten ist.

Die Stadt Zeitz, eine mittelgroße Industriestadt, wird von allen, die längere Zeit dort heimisch waren, geliebt und alle bewahren ihr eine große Anhänglichkeit. So geht es auch uns, die wir in Zeitz viele glückliche Stunden verlebten und noch zu verleben hoffen.

An die frühesten Kindheitserinnerungen knüpft sich für mich immer der Begriff der Großeltern mütterlicherseits an. Sie hatten in dem nahe gelegenen Wittgendorf das schon in dritter Generation der Familie Garcke gehörende Rittergut bewirtschaftet. Der Großvater war ein aufgeschlossener Mann, der weit über die Grenzen seiner Heimat hinaus als angesehener Fachmann und gern in Anspruch genommener Berater in landwirtschaftlichen Dingen galt. Er hatte nach der Jahrhundertwende das Gut seinem ältesten Sohne übergeben und war mit der Großmutter nach Zeitz gezogen. Der zweite Sohn war aktiver Offizier und die älteste Tochter war in Chemnitz verheiratet. Die jüngere Tochter, meine Mutter, war noch bei den Eltern und heiratete den königlich preußischen Bergassessor Wilfried Riedel im Jahre 1909. Mein Vater war als Sohn des Landpfarrers Theodor Riedel und seiner Frau Helene, geb. Bräuning, in Beesenlaublingen bei Halle geboren.

Die Großeltern Garcke lebten in einer schönen Etagenwohnung, an die sich für mich sehr viele schöne Erinnerungen verknüpfen. Es wurde dort eine rege Geselligkeit gepflegt, sei es aus beruflicher Verpflichtung oder aus persönlicher Neigung. Bezeichnend für die gute Atmosphäre, in der die damalige Generation lebte, mag sein, dass der wöchentliche Besuch des Hausarztes und des Herrn Pfarrers dazu gehörten. Auch Familienzusammenkünfte waren im Haus häufig, besonders aber an den Geburtstagen der Großeltern versammelten sich die Familienmitglieder, soweit sie es zeitlich ermöglichen konnten.

Der Großvater war als Offizier Kriegsteilnehmer am Feldzug gegen Frankreich 1870/71 gewesen und hatte sich zeit seines Lebens eine soldatische Einstellung bewahrt. So war das große Wohnzimmer an der Wand mit vielen militärischen Erinnerungsstücken geschmückt, wie Säbel, französische Gewehre, Epauletten und Bildern vom Einzug der siegreichen Truppen in Berlin. Bei Beaumont war der Großvater verwundet worden und immer am Jahrestag brachten wir Enkel ihm ein paar Blumen, worauf er uns dann von den alten Zeiten erzählte. Auch ein Grammophon stand im Zimmer, und wenn ein alter preußischer Marsch gespielt wurde, dann nahm er wohl mich kleinen Steppke bei der Hand und wir übten preußischen Stechschritt. Die Großmutter, sie stammte aus einer Schkeuditzer Fabrikantenfamilie, verwöhnte uns in ungewöhnlichem Maße mit Süßigkeiten und war, der damaligen Mode entsprechend, beim Spazierengehen mit schwerem Mantel und Kapotthütchen bekleidet. Der Großvater, der in Anerkennung seiner Verdienste zum königlich preußischen Ökonomierat ernannt worden war, befasste sich in späteren Jahren viel mit der Beratung der Bauern über moderne Anbaumethoden und künstliche Düngung, wozu er viel über Land ging und dabei häufig mich mitnahm. So wurde eine gewisse Naturverbundenheit und Liebe zu Natur und Kreatur schon früh bei mir geweckt.

Vom Krieg merkte ich sonst noch nicht viel. Nur an den Auszug einer singenden Abtteilung erinnere ich mich noch, bei deren Anblick mir meine Mutter den Ernst des Krieges etwas klarer zu machen versuchte, was nachhaltigsten Eindruck bei mir hinterließ. Auch eine Pferdemusterung, die sich auf der Straße abspielte, und bei der Hunderte von Pferden Kopf an Kopf die ganze Straße entlang standen, prägte sich mir stark ein, da mir die Pferde so leid taten.

Mein Vater war während des Krieges eingezogen, wurde jedoch im kriegswirtschaftlichen Verwaltungssektor beim Generalkommando IV im Magdeburg verwendet. Im Jahre des Zusammenbruchs 1918 war ich zu Ostern gerade in die Schule gekommen. Wir sind wohl alle damals recht schmächtige Bürsch‘chen gewesen. Ich erinnere mich noch der klebrigen Marmelade-Brote, die man als Frühstück mit zur Schule bekam. Es ging recht knapp zu. Nach dem Zusammenbruch kamen Truppeneinheiten nach Zeitz zur Auflösung. Für uns Schulbuben war das ein recht erfreuliches Ereignis, da die Truppen die Schule belegten und der Unterricht ausfiel. Mein Vater kehrte auch zurück, schied im darauf folgenden Jahr aus dem Staatsdienst aus und übernahm einen Geschäftsführerposten bei einer wirtschaftlichen Vereinigung der Meuselwitzer-Rositzer Braunkohlenwerke in Meuselwitz. Wir blieben aber in Zeitz wohnen und mein Vater nahm 15 Jahre die Unbequemlichkeit auf sich, täglich früh morgens um ½ 7 Uhr mit dem Zug nach Meuselwitz zu fahren, mittags nach Hause zu kommen und nach kurzer Mittagspause nochmals die Fahrt anzutreten, von der er erst abends spät zurückkehrte. Dazu war der Weg zum Bahnhof von unserer Wohnung aus gut 20 Minuten weit.

Ich besuchte zunächst die sogenannte Mittelschule, eine Art Bürgerschule, deren unterste Klassen der Vorbereitung für die höhere Schule dienten. Nach dieser dreijährigen Vorbereitungszeit zog ich auf dem Stiftsgymnasium in Zeitz als Sextaner stolz mit der schwarzen Mütze ein. Die Schule hatte nämlich die hübsche Sitte, dass zu jeder Klasse eine Mützenfarbe gehörte (schwarz, gelb, dunkelbraun, grün, hellblau, lila, weiß, hellrot, dunkelrot). Diese Mützen nahmen sich sehr gut aus und wir trugen zu Ostern nach der Versetzung stolz die neuen Mützen. Des Zeitzer Stiftsgymnasiums gedenke ich überhaupt immer gern. Es war eine Schule eigener Prägung. Im Gebäude eines alten Klosters untergebracht, pflegte sie, in engem Konnex mit den alten Schülern stehend, die gute alte humanistische Ausbildung. Die Schülerzahl war gering. In den unteren Klassen zwischen 20 und 30 schwankend, waren es in den oberen Klassen meist nur zwischen 10 und 20 Schüler in einer Klasse. Das Lehrerkollegium enthielt eine Reihe älterer Herren, die stadtbekannte Persönlichkeiten waren und die griechisch-lateinischen Wissenschaften schon Dutzenden von Jahrgängen eingepaukt hatten. Sie lebten teilweise etwas absonderlich abgeschieden in ihrer antiken Welt und waren, wie man sich vorstellen kann, oft die Zielscheibe unserer Lausereien. An der Spitze stand in dieser Beziehung der „Papa Wenzel“. Ein kleines Männchen mit Stoppelbart, Kneifer an schwarzer Schnur und kaffeebraunen Gehrock mit schwarzen Kaves, in dessen Stunden es immer hoch herging.

Für uns unterernährte Kriegskinder gab es in der Schule die sogenannte Quäkerspeise, eine amerikanische Hilfsmaßnahme. Wir erhielten gegen ein mäßiges Entgelt täglich in der Pause einen Topf mit Kakao, Milchsuppe usw. mit einem großen Weißbrötchen. Das tat uns recht gut und allmählich überwanden wir die Folgen des Krieges. Für meine Eltern wie alle anderen kam nun aber erst die schwere Zeit, die der Inflation, in der sie ihr Vermögen verloren. Auch die Tragweite dieses Ereignisses konnte ich damals nicht richtig erfassen. Nur entsinne ich mich, dass in diesem Zusammenhang erstmals mit viel Erbitterung vom Juden gesprochen wurde, der die Inflation bewerkstelligt hatte. Die unmittelbare Nachkriegszeit war reich an Unruhen, Streiks, Schießereien usw.

Manchmal lebten wir in Sorge, wenn der Vater unterwegs war, und die Stimmung sehr radikal gerade mal wieder war. Es gab auch Generalstreiks. Dann gab es kein Licht, kein Gas, keine Eisenbahn fuhr. Nach der Inflation wurde es allmählich besser. An die hohen Zahlen hatten wir uns Kinder erstaunlich schnell gewöhnt und ich entsinne mich noch meines großen Erstaunens, als ich in einem Buchladen einen ins Auge stechenden Kriminalschmöker oder eine Indianergeschichte für 20 Pfg. ausgezeichnet sah, die noch kurz zuvor Millionen gekostet hatte. Meine Eltern mussten nun ganz von vorn anfangen, ein Vermögen aufzubauen. Da hieß es nun kategorisch sparen. Aber obwohl es meinen Eltern gelang, näher zu einem gewissen Besitz zu kommen, ließen sie es doch an der Erziehung, Ernährung und auch an allen Vergnügen für mich und meine beiden Schwestern nicht fehlen. Ich muss sagen, es war ein meisterhaftes Ausbalancieren und so haben wir zwar nicht in Saus und Braus gelebt. Aber wir haben bei einer sehr erziehsamen Sparsamkeit nichts entbehrt, was andere Kinder unserer Gesellschaftskreise geboten bekamen. Das dies so war, ist in erster Linie das Verdienst meiner Mutter, die an sich der Verlust des Vermögens am schwersten getroffen hatte und die dies auch nie ganz verwunden hat. Allmählich rückte man in die höheren Schulklassen vor. Um es offen zu sagen, ich war in den unteren Klassen kein guter Schüler gewesen. Und manchmal sah es mit der Versetzung etwas mulmig aus und in den oberen Klassen besserten sich die Leistungen. Es kristallisierten sich allmählich auch mehr die naturwissenschaftlich-mathematischen Begabungen neben geschichtlichen und deutschkundlichen heraus im Gegensatz zu den mir weniger liegenden sprachlichen Sparten. Trotzdem bin ich froh, ein humanistisches Gymnasium besucht zu haben. Auch am Rande des eigentlichen Schullebens spielte sich ein wohl ziemlich einmaliges gediegenes Schülerleben ab, wie es wohl nur an einer so kleinen traditionsgebundenen Anstalt in einer Kleinstadt möglich ist. Da gab es Schulfeste mit sportlichen und unterhaltenden Darbietungen, die auf erstaunlicher Höhe standen und zu der sich alles mit zu einer großen Familie gehörend zusammenfand. Wir hatten außerdem einen Schülerturnverein „Friesen“, der in der Gliederung sich etwas der einer studentischen Korporation anglich, obwohl das natürlich vom Lehrerkollegium verpönt war. Es wurde wirklich eifrig geturnt und Sport getrieben und es wurde auch heimlich im abgelegenen Dorfgasthof gekneipt und hat uns allen nichts geschadet. Schön war‘s. Im Jahre 1926 verstarb mein Großvater Garcke und kurze Zeit darauf auch meine Großeltern väterlicherseits, die in Halle wohnten und die ich in den Schulferien öfter aufgesucht hatte. Die „halleschen“ Großeltern, wie wir immer sagten, waren der Inbegriff der Güte. Der Großvater, als Pfarrer im „Humanistischen“ wohl bewandert, interessierte sich nur manchmal, für meine Begriffe zu viel, für meine lateinischen Kenntnisse. Die Großmutter verwöhnte mich „Jungchen“, wie sie im halleschen Tonfall mich nannte, nach Strich und Faden, ebenso die damals unverheiratete einzige Schwester meines Vaters, die später sich noch mit dem Superintendent Linzel verheiratete.

Das Ableben meiner Großeltern hat mich damals sehr berührt und ich fühlte mich zu dem noch verbliebenen letzten Großelternteil, der Großmutter Garcke besonders hingezogen, deren erklärter Liebling ich bis zu ihrem Ableben im hohen Alter von 86 Jahren im Jahre 1938 blieb.

In der Sekunda wurde man üblicherweise auch zur Tanzstunde zugelassen, um in den gesellschaftlichen Umgangsformen und der Kunst der Terpsichore unterwiesen zu werden. Auch diese Zeit war eine sehr schöne und viele lustige und aufregende Ereignisse gab es zu erleben. Mit unseren Tanzkenntnissen konnten wir nun auch an den gesellschaftlichen Ereignissen in der „Ressource“, einer geselligen Vereinigung der ersten Zeitzer Bürgerkreise, teilnehmen. Diese Gesellschaft besaß ein eigenes Gesellschaftshaus mit großem Garten und die Feste dort gehören mit zu den schönsten Erinnerungen aus der Jugendzeit.

In dem Verein meiner Schulkameraden besaß ich einiges Ansehen, so dass man mir die Zeitungen unseres Turnvereins „Friesen“ und des damals stark protegierten VDA (Verein für das Deutschtum im Ausland) anvertraute. Da erstere Einrichtung häufig mit den Polizeiorganen in Kollision kam, war es ganz gut, im V.D.A., einer dem Lehrkollegium genehmen Einrichtung, ein Gegengewicht zu haben, so dass man uns das gelegentliche „über die Stränge schlagen“ wieder verzieh. Eine wunderschöne Wanderfahrt mit den „Friesen“ sei noch erwähnt, die uns von Nürnberg durch die fränkische Schweiz nach Bamberg führte. Eine fröhliche Fahrt zu Pfingsten, bei der wir uns wie die fahrenden Scholaren vergangener Zeiten vorkamen.

Auch meine Eltern ermöglichten uns, große Teile von Deutschland kennen zu lernen. Ferienreisen nach Thüringen, dem Harz, der Ostsee, Bayern und Tirol wurden in jedem Jahr unternommen, deren Wert neben der Erholung auf der erzieherischen Seite lag.

Die letzten Schuljahre wurden bereits von einer gewissen politischen Beeinflussung gekennzeichnet. Das Parteienwesen wurde immer stärker Gegenstand täglich aufs Neue entbrennender Redeschlachten. Da hatte die Sozialdemokratie das Prä, da sie letztlich den Staat von Weimar verkörperte und damit auch Einfluss auf den Lehrplan nahm. So lasen wir Marx und Engels, Bebel und Liebknecht im Geschichtsunterricht. Für Kommunismus konnte sich von uns wohl niemand erwärmen. Aber der Nationalsozialismus hatte es mit seinem Programm doch vielen angetan. Von Hause aus wurde man dagegen noch im konservativen Sinn erzogen und so stand man im Kreuzfeuer der Meinungen. Wie jeder Junge neigte man mehr zu dem Revolutionären als zu dem Althergebrachten. Das Nationalbewusstsein wurde uns in dieser an nationalen Höhepunkten so armen Zeit eigentlich nur gelegentlich gestärkt, so bei der Wahl des Reichspräsidenten v. Hindenburg, den Zeppelinfahrten und Veranstaltungen vaterländischer Vereine, zum Beispiel sogenannte deutsche Tage mit Umzügen, Festspielen usw.

Am 10. Oktober eines jeden Jahres fand im Gymnasium eine Feier zum Andenken an Luther – Schiller – Scharnhorst statt. Es war dies eine alte traditionsgebundene Veranstaltung, die abwechselnd einem der drei Großen gewidmet war und zu der sich alle ansässigen alten Schüler einfanden, ferner die Angehörigen der jeweiligen Schüler. Die Feier wurde von musikalischen Darbietungen umrahmt. Im Mittelpunkt stand eine Ansprache eines Primaners, die dem Lebenswerk des zu Feiernden galt. Als ich die Oberprima besuchte, wurde ich bestimmt, die Scharnhorst-Rede zu halten. Als Abschluss der Feier wurden Stipendien und Prämien für sehr gute Leistungen aus Stiftungen verliehen. Die Prämie für die Oberprima wurde mir bei dieser Feier zugesprochen.

Nun kam die schwere Frage, welcher Beruf sollte nach dem Abitur erwählt werden. Die meisten ergriffen das medizinische, juristische oder philologische Studium. Meine Veranlagung zog mich aber mehr zu dem Ingenieurberuf, obwohl ich über die Tätigkeit und vor allem über die wirtschaftlichen Möglichkeiten in diesem Beruf nur sehr unvollkommene Vorstellungen hatte. Aber welcher Junge hat wohl die ganz richtige Vorstellung von seiner späteren Berufsarbeit? Eine Zeitlang wollte ich auch Astronom werden. Ob es die Begeisterung für etwas Ausgefallenes war oder ob mich die Lektüre von einschlägigem Schrifttum bzw. ein eine Zeitlang betriebenes Sternenstudium war, kann ich heute nicht mehr sagen. Jedenfalls verlor ich die Begeisterung nach Unterhaltung mit einigen Astronomen und nach Einblick in die tatsächlichen Arbeiten eines Astronomen. Es blieb also bei dem Maschinenbau. Das Abitur wurde den bisherigen Schulergebnissen entsprechend verhältnismäßig leicht bewältigt: Sprachen schlecht, alles andere gut und besser.

Nun ging es gleich an die Ausbildung und zwar, wie es verlangt wurde, zunächst das praktische halbe Jahr, das in der Zeitzer Eisengießerei und Maschinenbauanstalt abgeleistet wurde. Neben der fachlichen Ausbildung in der Tischlerei, Gießerei, Schlosserei, Schmiede usw. waren es, wie schon auf der Schule theoretisch, nun praktisch die sozialen Probleme. Waren es doch alle überzeugte Sozialdemokraten und Kommunisten, die mich bei der Arbeit in politische Gespräche verwickelten und mit ihren Parteiparolen bearbeiteten. Nun, man lernte diese Parolen und Schlagworte bald kennen und legte sich auch manche Gegenparole, Gegenfrage und Antwort zurecht. Es kam ja für mich auch weniger darauf an, ein Politiker zu werden oder jemanden von der Richtigkeit dieses oder jenes politischen Dogmas zu überzeugen als Einblick in die soziale Frage, die Denkweise des Arbeiters und die betrieblichen Zusammenhänge zu nehmen.

Nach Ablauf des halben Jahres zog ich nun wohl bestallt nach München im Herbst 1930, also mit 18 Jahren, was angesichts der Tatsache, dass ich schon ½ Jahr Praxis hinter mir hatte, als zeitig bezeichnet werden kann. Die politischen Auseinandersetzungen wurden immer schärfer. In München Hitler zu hören, war eine der dringlichsten Aufgaben. Es ging eine außergewöhnliche Psychose von ihm aus. Ganz Deutschland sprach von ihm. Das politische Geschehen, die abgeleistete Arbeitszeit ließen es mir schöner erscheinen, frei und ungehemmt durch korporative Verpflichtungen durchs Studium sich zu bewegen. Für mich als Humanisten gab es vieles zu lernen, was andere schon auf der Oberschule gelernt hatten. So nahm mich einesteils das Studium stark in Anspruch, zumal ich mich auch mit Randgebieten wie Volkswirtschaft, juristischen Grundfragen beschäftigte, andererseits bot die Stadt München Abwechslung, Unterhaltung und noch mehr die nahen Berge. Ein neuer Freund, Erich Tuch, lud mich bald zu einer Motorrad-Fahrt in die Schweiz ein, wo seine Eltern wohnten. Sie gehörten zu der Geistesrichtung der Anthroposophen nach Steiner. So lernte ich diese eigenartige Gemeinschaft in Dornach kennen. Eine unvergessliche Fahrt nach Bern, Interlaken und Mürren folgte. Im Winter wurden die schönsten Ski-Touren im bayerischen Alpengebiet unternommen. Während der Hochschulferien nahm ich dann meine praktische Tätigkeit immer wieder auf, so nacheinander bei den Horch-Werken (Autobau) in Zwickau, den Pittler-Werken in Leipzig, den Phönix- und Leonhard-Braunkohlen-Werken. Die Münchener Zeit verging wie im Fluge. Da ich nach dem Vorexamen die Hochschule wechseln wollte, galt es, sich mit dem Vorexamen beeilen. Zuvor unternahm ich mit dem in München kennengelernten Freund Goeppner mit eigenem Motorrad eine Italienreise, die uns nach Venedig, Specia, Genua, Mailand, Lugano, Vierwaldstätter See und Allgäu führte. Ein letzter Winter in München nahte, noch einmal Fasching, Salvator-Fest auf dem Nockherberg und alles Schöne, was München an Kultur bot, nebst Sonne und Ski, und dann nahm ich Abschied von München, das Vorexamenszeugnis gut bestanden in der Tasche. Die Hochschule war etwas veraltet in Besetzung und Unterricht gewesen, aber wir hatten doch viel gelernt. Die letzten Wochen in München brachten die nationale Erhebung, doch diese spielte sich ja mehr in Berlin ab als in München und wir steckten um diese Zeit stark im Examen. Also es ging wie eine Hochstimmung durch uns alle, erwartungsvoll standen wir dem Neuen gegenüber.1

In Berlin schloss ich mich einer Korporation, dem Akademischen Verein Hütte, an, in dem ich mich stets sehr wohl gefühlt habe. Das Korporationsleben im alten Stil wurde in glücklicher Weise mit dem neuen Staatsdenken in Einklang gebracht. Die Angehörigen der Hütte waren vorwiegend Westdeutsche und Berliner. Alle Fakultäten der Technischen Hochschule waren vertreten. Vor allem auch viele Architekten und so hatten viele Veranstaltungen einen künstlerischen Anstrich. Zu den Kneipen, Stiftungsfesten und sonstigen größeren Veranstaltungen wurden launische „Mimiken“ aufgeführt, die ironischer, satirisch witziger Form Zeitereignisse glossierten oder als Parodien aufgezogen waren. Häufig schlossen sie einen kräftigen Fuxenleim ein, mit der Neuaufgenommene in die Corona aufgenommen wurde. Auch nicht zu vergessen die lustigen Fuxentaufen im Keller. Im Sommer standen uns Ruder- und Segelboote auf dem Wannsee bei Schwanenwerder zur Verfügung. Die Sommertage auf den Berliner Gewässern gehören zu den schönsten Erinnerungen an die damalige Zeit. Eifrig wurde täglich gepaukt, was mir persönlich sehr lag, so dass ich bald Fechtwart der Korporation wurde. Das Hüttenhaus am Bahnhof Tiergarten war aber auch oft ein Ort erregter Debatten über die neue Zeit. Wie überall, so auch in der Hütte, regten sich die Vertreter des Nationalsozialismus, um alle bestehenden Organisationen gleichzuschalten, wie man damals sagte, d. h. sie geistig und organisatorisch in das nationalsozialistische Partei- und Staatssystem einzugliedern. Da musste natürlich manches Alte fallen und dagegen sträubten sich natürlich diejenigen, die am Alten gearbeitet und geschaffen hatten. Der Hütte kam zugute, dass sie vom Altherrenverband die Herausgabe eines international anerkannten ingenieurtechnischen Buches betrieb. Wir konnten nach langen Kämpfen und Auseinandersetzungen als sogenannte Kameradschaft mit unserem alten Namen in unserem Heim bestehen bleiben. Die Kameradschaft bedeutete, dass die Aktiven auf dem Haus wohnten, gemeinsam lebten, geschult wurden. Wir hatten das Glück, dass die damalige erste Belegschaft des Kameradschaftshauses prächtig zusammenpasste und eine lustige Gemeinschaft darstellte, die die Zwangskasernierung sehr jovial auffasste und viel Freude und wirkliches kameradschaftliches Erleben in dieser Einrichtung hatte. Höhepunkt der winterlichen Vergnügungen war stets unser Hütten-Kostümfest. Hierzu wurde das ganze große Haus dem Motto entsprechend umgewandelt und ich muss sagen, dass dies unseren angehenden Architekten stets meisterhaft gelang. Diese Feste waren in ganz Berlin bekannt. An der Hochschule fand ich eine Fülle von Anregungen. Insgesamt sagte mir die Berliner Hochschule viel mehr zu als die Münchener.

Da zum Zeitpunkt meines Studiums in Berlin die Lage am Arbeitsmarkt für Maschinenbauingenieure sehr schlecht und aussichtslos war – wir hatten in der Zeit eine große Wirtschaftskrise mit Massenarbeitslosigkeit – fasste ich den Plan, umzusatteln und Braunkohlenbergmann zu werden. Hierzu lagen gewisse Anregungen aus dem väterlichen Beruf und die Aussicht auf eine im Bergbau nicht so sehr konjunkturmäßigen Einflüssen unterworfene Tätigkeit vor. Ehe ich jedoch an die endgültige Ausführung dieses Entschlusses ging, benutzte ich die Gelegenheit an der TH als Gasthörer der Bergbaufakultät Einblick in den Lehrplan der Bergleute zu nehmen. Während dieser Zeit nahm im Reich die Förderung autarker Treibstoffversorgungspläne zu und in mir reifte der Entschluss, mich diesen Plänen, die im Wesentlichen von der Braunkohle ausgingen, zu widmen. Es galt nun also, die Gewinnung und Verarbeitung der Kohle, die Veredelung, also mehr chemische Fragen und mein Grundstudium, den Maschinenbau, zu kombinieren. Die TH Berlin bot hierzu in geradezu idealerweise Gelegenheit. Bei meinem Grundstudium, dem Maschinenbau, bevorzugte ich Fragen der Kraft- und Wärme-Energieversorgung, wozu bei Prof. Schöne, dem damaligen Pionier der Hochdruckdampferzeugung, beste Gelegenheit war. Die Mineralölfragen wurden in damals wohl einmaliger Art von Prof. Heinze, einem alten Praktiker der Braunkohlenveredlung, vertreten. Daneben war ich ständig in der Bergbau-Fakultät vertreten. Mit letzterer wurden auch häufig Exkursionen zu den Braunkohlenwerken unternommen, die anregend und vor allem auch in geselliger Hinsicht einzig dastehend waren. Besonders Prof. Tübben sei hierbei genannt, ein Mann von großem weltmännischen Auftreten, der nicht selten seine Studenten nach einer Vorlesung oder Exkursion privat zum Mittagessen einlud. Manch prächtiger Schmaus im „Schwarzen Ferkel“ in Berlin ist mir in Erinnerung geblieben.

Die allgemeine Lage im Deutschen Reich besserte sich zusehends. Die Arbeitslosigkeit verschwand, die Industrie blühte auf und ein gewisser Wohlstand kehrte überall ein. Die zunehmende Rüstung konnte man in Berlin im immer stärker werdenden Auftreten von militärischen Fahrzeugen und Militär selbst bemerken. Politisch waren wir nun alle gleichgeschaltet. Alle Angehörigen der Kameradschaften waren Mitglieder der S. A., in der eine wehrsportliche Ausbildung neben politischer Ausrichtung betrieben wurde. Alles in allem waren wir alle recht zufrieden und stolz auf die zunehmende Stärkung der weltpolitischen Stellung unseres deutschen Vaterlandes. Bilder stärkster Wirkung waren in dieser Hinsicht die großen Militärparaden auf der Charlottenburger Chaussee zu dem Geburtstag des Führers mit den neuentstandenen Waffengattungen, die noch bislang durch den Friedensvertrag von Versailles verboten waren. Im Jahr 1936 war auch die Olympiade ein Ereignis, an das jeder Augenzeuge mit Stolz zurückdenkt. Ich selbst konnte mir das Olympische Festspiel im Olympia-Stadium ansehen, dessen Ausklang mit der Neunten Symphonie von Beethoven mit dem Text von Schiller „An die Freude“, gesungen von einem starken Chor in der warmen August-Nacht unter einem Dom von Scheinwerfern, zu den stärksten Eindrücken meines Lebens gehört. Berlin war zu diesem Zeitpunkt schon städtebaulich erheblich verschönt worden und viele neue Planungen waren im Anlaufen.

Für mich kam nun der Abschluss meiner Studien, die mit einer Diplom-Arbeit und einer mündlichen Prüfung beendet wurden. Die Diplomarbeit gab mir der schon erwähnte Prof. Schöne, in Abweichung von dem Herkömmlichen, als eine Planungsaufgabe für ein Industrie-Kraftwerk der Grube Ilse. Die Arbeit war sehr umfangreich und mir wurde ein ½ Jahr Zeit dafür bewilligt, während sonst nur 8-Wochen-Frist üblich war. Auch musste die Arbeit an Ort und Stelle in der Niederlausitz durchgeführt werden. Ich war recht stolz darauf und widmete mich mit Feuereifer der Arbeit. Die Zeit in Bückgen war eine recht schöne, fand ich doch dort einen sehr netten Bekanntenkreis, aus dem Hütten-Bruder Karplus, einem Landwirt Schulz und einem Juristen der Grube Ilse bestehend. Wir wohnten zusammen in dem reizenden Junggesellenheim der Grube Ilse und hockten viel zusammen. Es ging meist recht lustig zu. Alle waren recht anregend. Häufig wurden Motorradausflüge während des schönen Sommers unternommen zu Badefahrten, lustigen Umtrunken. Auch das nahe Dresden wurde öfter aufgesucht. Dresden hatte bereits im Frühjahr 1936, als ich einen Braunkohlen-Ferienkurs der Bergakademie Freiberg besuchte, einen nachhaltigen Eindruck bei mir hinterlassen, ob seiner städtebaulichen Reize. Ein Anblick vom Neustädter Elbufer auf die nächtlich mit Scheinwerfern angestrahlten Bauten von Zwinger, Oper und Hofkirche, mit den grünen Dächern und den herrlichen Formen des sächsischen Barocks war ein Genuss, von dem man sich nur ungern trennte. Auch die Sächsische Schweiz wurde aufgesucht. Leider hat der Krieg alle drei Freunde gefordert. Im September war die Arbeit abgeschlossen. Sie war sehr gut gelungen. Nun folgte noch eine mehrwöchige Vorbereitung auf das mündliche Examen, das mit Hüttenbruder Lindner gemeinsam vorgenommen wurde, und Anfang Dezember war es dann soweit. Alles klappte recht gut und mein Vater, der gerade am Schlusstage in Berlin dienstlich anwesend war und der wohl manchmal wegen meiner weitausgreifenden Studienpläne Zweifel an dem Abschlusserfolg hatte, konnte aus erster Hand die frohe Kunde vernehmen, was ihn veranlasste, ein sehr feudales Abendessen bei Kempinsky in der Leipziger Straße zu spendieren, wo mir mein Freund Lindner eine besondere Freude zu bereiten hoffte, indem er im Lokal ausrief und den Ober bat, den Dipl.- Ing. Riedel. im Lokal zu suchen oder rufen zu lassen.

Zu dem damals eingeführten Arbeitsdienst wurde ich nicht mehr herangezogen, aber ich meldete mich freiwillig. Für Angehörige meines Jahrgangs wurden 8-Wochen-Kurse eingerichtet und schon wenige Tage nach dem Examen zog ich als Rekrut bei dem Artillerie-Regiment 14 in Naumburg ein. Es war ein zackiger Dienst, den die alten Zwölfender, wie man die aus der Reichswehr übernommenen zwölf Jahre dienenden Unteroffiziere und Wachtmeister nannte, abforderten. Aber wir taten es gern, waren wir doch Freiwillige. Nach der Entlassung war nun die Stellungsfrage zu klären. Ich schwankte zwischen der Firma Lurgi in Frankfurt/Main, zu der mich mein Lehrer, Prof. Drawe, warm empfohlen hatte. Diese Firma ist eine der namhaftesten auf dem Gebiet der Kohle-Veredelung. Weiter standen die A. G. Sächsische Werke und die Anhaltischen Kohlewerke zur Debatte. Der technische Direktor der letzten Firma, Dr. Kienast, hatte ein besonderes Interesse an mir und so entschloss ich mich, bei A.K.W. in Halle am 20.4.1937 die Arbeit aufzunehmen. Es war ein schöner Frühlingstag, Führergeburtstag mit Fahnen und viel Betrieb. Ich fasste dies als ein gutes Omen auf und stürzte mich in die Arbeit. Bald verließ ich Halle, um mich auf den Außenanlagen der Firma umzusehen. Ich kam zunächst nach Profen bei Zeitz, wo eine Brikettfabrik, eine Versuchsschwelerei und eine benachbarte Brikettfabrik Hohenzollernhall mit Kraftwerk zu betreuen waren. Bei dieser Tätigkeit konnte ich in Zeitz bei meinen Eltern wohnen und ich konnte mit meinen alten Zeitzer Freunden und Bekannten wieder in engere Fühlung kommen, wobei ich besonders meines Freundes Ernst Pfeifer gedenke, der einige Jahre später auch im Felde fiel. In diesem Jahr (1937) starb auch meine Großmutter Garcke. Mein Vater hatte unter den veränderten politischen Verhältnissen, die die Arbeitgeber-Verbände abschafften, eine Veränderung seiner Tätigkeit hinnehmen müssen. Seine Meuselwitzer Dienststelle war unter Vereinigung mit einer analogen Eirichtung in Borna nach Leipzig verlegt worden. Auch nach Leipzig fuhr er täglich mit der Eisenbahn. Mit dem Leiter der Brikettfabrik Hohenzollernhall, einem Dipl. Ing. Böning und seiner Frau, verband mich bald eine enge Freundschaft. Er übertrug mir während seines Sommerurlaubes die vertretende Leitung der Brikettfabrik, worüber ich sehr stolz war, denn das war ja die erste selbständige verantwortungsvolle Tätigkeit. In diesem Jahr fand in Düsseldorf eine große Ausstellung „Schaffendes Volk“ statt, die einen umfassenden Überblick über die Industrie-Leistungsfähigkeit Deutschland brachte und sich besonders mit heimischen Austauschstoffen und synthetischen Produkten befasste. Ich konnte diese Ausstellung als Beauftragter der A.K.W. besuchen. Es war wieder, wie schon in Berlin mehrfach geschildert, ein nationaler Höhepunkt. Schon der Flug über deutsches Land mit überall rauchenden Schornsteinen und lodernden Hochöfen im Ruhrgebiet war ein starkes Erleben. Doch am Rande dieser Glanzperiode zogen schon Wolken auf, die sich allerdings immer wieder zerteilten. Der Spanien-Krieg tobte, die Judenfrage wurde in Deutschland immer radikaler diskutiert. Zeitweilig traten Verknappungen an einzelnen Fetten und Fleischarten auf. Doch alles dies störte uns nicht. Wir lebten glücklich und zukunftsfroh. Da ich beim Militär zur berittenen Artillerie eingeteilt worden war, bemühte ich mich, reiterliche Fähigkeiten zu erwerben. In Zeitz war hierzu Gelegenheit im Reitstall von Herrn Begling.Im Herbst 1937 wurde ich zu einer weiteren militärischen Übung, diesmal nach Dresden, zum A.R. 4, einberufen. Sie brachte mir die Beförderung zum Gefreiten und Reserve-Offizier-Anwärter. Von meiner militärischen Zeit war die Dresdener die schönste. Wieder waren wir vorwiegend Freiwillige, die wie Pech und Schwefel zusammenhielten. Der Batteriechef nahm sich unserer mit viel Verständnis und großem Eifer an. Wir lernten schon viel Taktik und höhere militärische Aufgaben. Der notwendige Schliff wurde von uns selbst gern freiwillig übernommen und wir wollten manches lernen, was für Reservisten eigentlich nicht üblich war, wie Paradeschritt und Präsentiergriffe. Wenn alles dann schön klappte, waren wir selbst sehr stolz darauf. Auch für die kulturellen Genüsse, die Dresden bot, war genügend Zeit und manch schöner Abend in Oper, Gemäldegalerie-Besuch, Besuch des Weißen Hirsch verbindet sich in der Erinnerung mit der Dresdener Militärzeit.

Zurückgekehrt wurde ich bei A.K.W. nach Rositz zum Gertrud-Schacht versetzt, wo ein neues Hochdruck-Kraftwerk seiner Vollendung entgegenging. Hier gab es wieder mancherlei zu lernen, aber ich konnte auch viel von meinen Berliner Kenntnissen verwerten. Ich hatte einen kleinen DKW-Wagen und manch schöne Fahrt konnte unternommen werden. Der Dienst war nicht übermäßig anstrengend, aber es war viel Bereitschaftszeit dabei, da die Anlage noch viele Kinderkrankheiten aufwies. Auch mussten bei den sonntäglichen Stillständen der Brikettfabrik die Reparaturen durchgeführt werden, wozu man anwesend sein musste, und dann auch in der Nacht vom Sonntag zum Montag zum Anfahren der Turbine. Im Sommer lief die Anlage dann gut und wir konnten die Abnahme-Versuche durchführen. Dies war eigentlich die letzte interessante Arbeit und gelegentlich eines Vortrags, den ich in Halle vor den Direktoren der A.K.W. hielt, schnitt ich das Problem meiner weiteren Verwendung speziell bei einem neuen Schwelerei-Projekt neu an. Leider wurde aus dem Neubauprojekt nichts und Dir. Kienast schied zu dieser Zeit auch aus den A.K.W. aus. Man bot mir eine Assistentenstelle bei dem technischen Direktor aller A.K.W.-Brikettfabriken an, die mir aber wegen meiner Interessen auf dem Mineralöl-Gebiet nicht zusagte. So sah ich mich nach etwas anderen um. Vor den Toren der Stadt Zeitz entstand zu dieser Zeit ein gewaltiges Treibstoffwerk der Braunkohle-Benzin A. G. und dort erhielt ich eine Stellung. Vor der Einstellung wurde man einer regelrechten Prüfung unterzogen. Der Montage-Leiter des Werkes v. Felbert wurde aber bald nach meinem Eintritt, im Herbst 1938, von Zeitz nach Böhlen bei Leipzig versetzt, wo ihm die Leitung des dort schon bestehenden Brabag-Werkes übertragen wurde. v. Felbert nahm mich bei diesem Wechsel mit nach Böhlen. Es wurde bald in Böhlen eine „Ingenieurtechnische Zentralstelle“ für sämtliche technischen Belange der vier Brabag-Werke aufgezogen, deren stellvertretende Leitung mir übertragen wurde. Damit hatte ich die Stellung gefunden, die mir seit meinem Berliner Studium vorschwebte. Die Tätigkeit war hochinteressant und stand mitten im Zeitgeschehen. Große und immer größere Projekte und Probleme gab es zu bearbeiten. Die Planungsstelle wurde ein Apparat von 180 Angestellten. Alles wurde mit Großzügigkeit und den modernsten technischen Möglichkeiten behandelt. Aber auch die politische Lage verschlechterte sich leider zusehends. Die Besetzung Österreichs und des Sudetenlandes waren kritische Punkte. Es kam zu Judenverfolgungen, die auch im benachbarten Leipzig üble Formen annahmen. Im Frühjahr 1939 rückte ich nochmals zu einer militärischen Übung in Naumburg ein. Diesmal wurden wir bereits als Ausbilder bei aktiven Truppenteilen verwendet. Es war nochmal eine schöne Soldatenzeit, die mir den Unteroffizier einbrachte. Da sich die Lage zugespitzt hatte, schloss ich gleich noch die nächste, d. h. insgesamt gesehen, die vierte Übung an und rückte mit dem Regiment nach dem Truppenübungsplatz Königsbrück aus. Hier wurde viel geübt und geschossen, viel geritten und auch kräftig gezecht. Alles klappte gut und ich konnte als wohlbestallter Wachtmeister nach Böhlen zurückkehren. Hier gab es neue Aufgaben. Die Rüstung und damit auch unser Treibstoffprogramm lief auf Hochtouren. Wir bauten aus und schafften neue Produktionszweige. Eine schöne Werkswohnung, ein geradezu ideales Junggesellenheim stand mir zur Verfügung, mit Wohnzimmer, Schlafzimmer, Küche und Bad. Ich war dort prächtig untergekommen.

  1. Anmerkung zu Riedels Schilderung der Ereignisse vom 30. Januar 1933
    Der Bericht wurde zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, den Deutschland begonnen hatte, geschrieben. Riedel beobachtete das Zeitgeschehen dennoch kritisch. Die Erlebnisse seines Schwiegervaters, wie in der Einleitung berichtet, lieferten zusätzliche Gründe dafür. Bei Riedels Schilderung der Ereignisse vom 30. Januar 1933, bei ihm als „nationale Erhebung“ bezeichnet, ist zu berücksichtigen: Riedel war damals 20 Jahre alt. Die politischen Streitigkeien der Vorzeit hatten unter den Jugendlichen tatsächlich Verdruss ausgelöst.
    ↩︎

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert